Transgenerationale (Dis)kontinuität des Begehrens*

von Jenny Oliveira Caldas

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Was bestimmt, wen wir begehren und wer uns begehrt? Sexualität ist auf schmerzhafte Weise mit rassifizierten und geschlechtsspezifischen Vorstellungen von Schönheit und Begehren verwoben. In diesem verletzlichen Blogbeitrag teilt Jenny Oliveira Caldas ihre Erfahrungen als schwarze CIS-Frau, die sich damit auseinandersetzt, was es bedeutet, wie sich dieses über Generationen hinweg entwickelt.

*Dieser Text ist aus einer Schwarzen femme cis-, able-bodied Perspektive geschrieben.

Das Begehren, ein kolonialgeschichtliches Erbe

Die Freude war meiner Oma ins Gesicht geschrieben als meine Mutter einen weißen Mann, einen Schweizer(!), heiratete. Bereits in meiner Familie wurde mir gespiegelt, dass das Zusammensein mit einem weißen Mann etwas Erstrebenswertes sei. Für meine Oma, die aus einem kleinen Dorf in Brasilien kommt, stellte eine solche Heirat den Weg zu einem ‘besseren Leben’ dar. So erzählt sie uns zumindest ihre eigene Geschichte – sie als die Eine, die davongekommen war, es nach Europa geschafft hatte und sich ein ‘gutes Leben’ aufgebaut hatte, wobei ich mich beim Zuhören oft fragte, was sie genau darunter verstand. Es ist nicht zu bestreiten, dass sich unsere materielle Lebensqualität durch die Heirat meiner Mutter verbesserte. Doch wurden wir den Ansprüchen ihres Partners einer ‘richtigen’ schweizer Familie, was immer das auch bedeuten mochte, nicht gerecht. Wir hatten bisher ein Leben gelebt, das von einer anderen Dynamik gezeichnet war, mit Instabilitäten und eigenen Formen der Geborgenheit. Es ist aber bezeichnend, dass meine Oma, meine Mutter und letztlich auch ich, alle drei Schwarze Frauen, strukturell gelernt hatten, unsere eigene Ablehnung zu begehren – ein kolonialgeschichtliches Erbe. 

In ihrem Buch The Right to Sex befasst sich die Philosophin Amia Srinivasan (2021) mit der Frage danach, ob unser Begehren Gegenstand politischer Auseinandersetzung und Kritik sein sollte. Für Srinivasan steht nicht zur Debatte, dass unser Begehren durchzogen ist von gesellschaftlich geprägten Vorurteilen und Verzerrungen, wie ableistischen Vorstellungen, Rassismen, Sexismen oder anderen Diskriminierungsformen. Dabei soll die Offenlegung dieser Verstrickungen keine moralischen Ansprüche erheben, vielmehr geht aus ihr die Frage danach hervor, wie selbstbestimmt und frei wir unser Begehren wirklich formen können. Wie nährt sich unser Begehren? Woraus speist es sich? Die Frage danach, wer wen wie und wieso begehrt oder begehren kann und möchte, ist politisch: Unser Begehren hat eine politische Dimension.  

Auch Achan Malonda geht in ihrem Text ‘Becoming Milli: Ein Plädoyer für die Dekolonisierung Schwarzer Sexualität’, diesen Themen nach. Sie arbeitet dafür mit dem Bild der ‘Schlafenden Milli’, einer Schwarzen Frau, die vom Künstler Ernst Ludwig Kirchner (1911) abgebildet wurde. In ihrem Text beginnt Malonda aus einer dekolonialen und historischen Perspektive die Rassifizierung, Sexualisierung und Dehumanisierung von Schwarzen Körpern sowie die damit einhergehende Konstruktion einer weißen, binären (cis-)Heteronormativität, die die “Hegemonie und ökonomischen Interessen weißer Männer” sichern sollte, zu beschreiben. Sie geht ebenfalls auf den ‘kolonialen Blick’ von Kirchner auf Milli ein, über die wir keine weiteren Informationen haben, als ihre exotisierende und erotisierende schlafende Abbildung, sie ist das begehrte Objekt. Die Frage danach, wen, was oder wie Milli begehrt, wird nicht gestellt. 

Befreites Begehren

Die Frage danach, wie was oder wen eine Schwarze queere Frau* begehrt, stand aus historischer beziehungsweise kolonialgeschichtlicher Perspektive sehr lange nicht im Vordergrund. Es verwundert daher nicht, dass Malonda in ihrem Text schreibt: “Ich dachte sogar sehr lange, ich sei gar nicht ‘richtig’ bisexuell, weil mir die historischen und strukturellen Implikationen dessen nicht bewusst waren. Auch nicht, inwiefern race dabei eine Rolle spielt. An dieser Stelle bin ich gerade auf der Suche und habe noch keine Antworten”. Das Begehren von Schwarzen und auch queeren Frauen* wird systematisch durch kulturelle und institutionelle Unterdrückungsmechanismen, die diese rassifizieren, marginalisieren, dehumanisieren und dadurch selbstaffirmierende Erfahrungen verhindern, unterdrückt. Bereits Audre Lorde, eine US-afroamerikanische Dichterin und Aktivistin, verstand die ‘Kraft der Erotik’ in ihrem Text ‘The Uses of the Erotic’ als eine intrinsische kreative Lebenskraft der Selbstbestimmung und setzte dies einem begrenzten Verständnis des Begehrens als nur lediglich Sexuellem oder Romantischen entgegen: “The erotic is a measure between the beginnings of our sense of self and the chaos of our strongest feelings. (…) I speak of it as an assertion of the lifeforce of women; of that creative energy empowered, the knowledge and use of which we are now reclaiming in our language, our history, our dancing, our loving, our work, our lives” (Lorde 1978: 88f). 

Als Schwarze Frau in einer rassistischen Gesellschaftsordnung war und bin ich nicht Teil einer weißen heterosexuellen Normalität. Vielmehr bemühte ich mich in der Vergangenheit, eben dieser Norm zu entsprechen. Ich verliebte mich in die Jungs, auf die alle standen und die aber nie meine Gefühle erwiderten, das wusste ich intuitiv. Diese Form oder Konfiguration von Begehren, obwohl sehr unbefriedigend, fühlte sich ‘normal’ an. Auch Malonda beschreibt, die Tatsache, dass sie bisher hauptsächlich mit weißen cis Männern romantische Beziehungen führte als keinen Zufall, vielmehr sieht sie einen Zusammenhang mit individuellen und kollektiven Traumata, internalisiertem Rassismus und Homophobie, aber auch mit Versprechungen eines vermeintlich besseren Lebens. Wie unser eigenes Begehren erkennen in diesem disproportionalen Verhältnis weißer cis Heteronormativität? 

In heterosexuellen Konstellationen ist es in meiner Erfahrung oftmals so, dass ein männliches Gegenüber die aktive Rolle beim Flirten übernimmt beziehungsweise gelernt hat, sie zu übernehmen. Diese gängige Vorstellung hat bei mir zu einer ausbleibende Proaktivität im Nachgehen von romantischen oder sexuellen Bindungen geführt. In queeren Dating-Konstellationen wurde ich dazu herausgefordert, mein Begehren abseits der Zugeständnisse eines weißen und männlichen Gegenübers wahrzunehmen. Ich wurde aufmerksam auf eine gewisse Abhängigkeit in der Konstitution weiblichen Begehrens in heterosexuellen Kontexten. Ich habe gelernt zu begehren, wenn ich begehrt werde. Es ist also wenig überraschend, dass ich oftmals vor FLINTA*s (FrauenLesbenIntersexuelleNon-binäreTransAgender*alledarüberhinaus) stehe und nicht um mein Begehren weiß, geschweige denn, wie ich danach handeln kann. In der Hinsicht fühlt sich die Heteronormativität einladend und einfach. Für schwierige Situationen in heterosexuellen Beziehungen gibt es meist bereits gesellschaftlich codierte Verhaltensweisen, Antworten und Erklärungen, die diese einordnen, während solche Normierungen in queeren Konstellationen oftmals hinterfragt werden. Auf dem Festival WHOLE zeichnete sich diese Dynamik fast schon karikaturenhaft nach: Während schwule cis Männer nahezu überall Sex hatten – auf dem Weg von einem Dancefloor zum anderen, in den umliegenden Gebüschen oder auch einfach locker nackig mit der Hand vor dem Intimbereich auf dem Zeltplatz auf einen zukamen, um nach Gleitmittel zu fragen – zirpten im kinky FLINTA*-Zelt die Grillen. Aber nur weil Sex unverblümt, ohne Einschränkungen und überall nachgegangen wird, muss dieser ja nicht unbedingt befreiter sein, oder? In Whose freedom stellt Judith Butler, eine Gendertheoretiker*in, eben diese Frage danach, was für ein Freiheitskonzept dieser Frage unterliegt. Sie schreibt, dass es charakteristisch sei für eine weiße und bürgerliche Moral, deren ideologische Funktion es ist, von größeren systemischen Ungerechtigkeiten abzulenken, nicht an kollektive Formen von Freiheiten zu denken. Malonda schreibt, dass sie ihren Körper in Kontinuität zu Millies Körper versteht. Auch ich verstehe die Handlungen meiner Oma und meiner Mutter als das Sehnen nach Selbstbestimmtheit und Autonomie und sehe meinen Körper als Kontinuum zu der ihren. Unterschiedliche, sich konstituierende Zeitlichkeiten kommen hierbei zutage, ihre Bewegungen und Bemühungen stehen für mich in direkter Beziehung dazu, dass ich ein Jahr später wieder auf dem Whole Festival vor dem FLINTA kinky Zelt stehe und mich frage, ob ich an dem Workshop “Ass worship” or “Darkroom for Beginners” teilnehmen möchte. Dieses Mal bildeten sich sogar Schlangen vor dem Zelt. Ich habe letztlich nicht daran teilgenommen, aber es hat in mir die Hoffnung geweckt, dass diese verspielten Formate, die zu freieren und kollektiven Formen des Selbstausdrucks einladen, Teil sind einer transgenerationale Bewegung in Richtung befreiteren Formen des Begehrens.


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